„Wenn du drauf bist, fühlst du dich total erhaben – und später hundeelend“

„Wenn du drauf bist, fühlst du dich total erhaben – und später hundeelend“

LÜNEN. Methadon und andere Ersatzstoffe haben dazu beigetragen, die Zahl der Drogentoten in den vergangenen 30 Jahren zu reduzieren. Lünen galt lange als
heißes Pflaster. Dean war Teil der Szene. Heute ist der „Drogenopa“ clean.

Von Felix Püschner

Dean krempelt die Ärmel seines Pullovers hoch. „Schauen Sie mal“, sagt er, „keine  Einstiche“. Die Zeiten, in denen sich der 63-jährige Lüner täglich Spritzen gesetzt hat, sind vorbei. Der „Drogenopa“ – so nennen ihn die Menschen in seinem engeren Umfeld – hängt nicht mehr an der Nadel. Und er sitzt auch nicht mehr hinter Gittern. Er sitzt mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf einem Stuhl in der Drogenberatungsstelle und plaudert mit  Suchtberater Olaf Weißenborn. Das tun die beiden seit fast 30 Jahren einmal in der Woche.  Weißenborn hat eine ganze Mappe voller Dokumente über Dean. Er kennt die Vita  des 63-Jährigen fast so gut wie Dean selbst. „Was glaubst du“, fragt der Suchtberater, „wäre mit dir passiert, wenn das Methadonprogramm damals nicht eingeführt worden wäre?“ Dean überlegt kurz: „Keine Ahnung. Dann wäre ich vielleicht immer noch im Knast  – oder sogar schon im Grab.“

In dem Automaten in einer kleine Gasse an der Münsterstraße gibt es unter anderem steriles Spritzbesteck und Kondome. Der Automat wurde Ende der 1980er Jahre aufgestellt. Auch heute noch füllen die Mitarbeiter der Drogenberatungsstelle ihn regelmäßig auf. So groß wie vor 30 Jahren ist der Bedarf allerdings nicht mehr.

Frankfurt, Anfang der 1970er Jahre. Dean ist gerade einmal 18 und lebt in einer WG mit drei  Mitbewohnern, getrennt von seinen Eltern, zu denen das Verhältnis nicht mehr allzu rosig ist. Er finanziert die Wohnung praktisch alleine. Aber nicht auf legalem Weg. Die  Arbeit in einer Generatorenfabrik hat Dean nach ein paar Monaten schon aufgegeben. „Ich  habe schnell gemerkt, dass es auch anders geht, dass man auch auf andere Weise zu Geld  kommt“, sagt er. Das Geld verdient er mit dem, was ihm Spaß macht: Er konsumiert nicht  nur, sondern verkauft auch Drogen, zunächst vorwiegend Haschisch und Kokain. Das  Geschäft läuft gut. Aber wirklich glücklich ist Dean nicht. Vor allem nicht an diesem einen  Abend, als die WG Damenbesuch bekommt. Der 18-Jährige ist allein in seinem Zimmer. Im  Nebenraum wird laut gelacht. Die Leute haben Spaß. Den jungen Mann aus Lünen wollen sie nicht dabei haben. Er fühlt sich ausgegrenzt. „Da war dieses Mädchen aus Schweden.  Die hat mir die erste Spritze gesetzt. Ich wollte ja dazugehören, also hab ich sie gelassen“,  sagt Dean. Für Sozialarbeiter Matthias Hundt ist das ein geradezu klassisches Beispiel dafür, wie Menschen in die Sucht geraten. Und man könne das sogar nachvollziehen, sagt  der Mitarbeiter der Drogenberatungsstelle: „Was macht denn eine idealtypische  zwischenmenschliche Beziehung aus? Liebe, Wärme und Geborgenheit gehören dazu.  Wenn man in die Biografien von Opiatabhängigen schaut, sieht man, dass vielen genau das in ihrer Kindheit und Jugend gefehlt hat. Das sind Menschen, die ein enormes  Bedürfnis nach diesen Gefühlen haben“, sagt Hundt. Schwere Belastungen und Verluste,  aber auch Misshandlung und Missbrauch tauchen in den Akten der „Klienten“ – so nennt  man die Betroffenen in der Drogenberatungsstelle – ebenfalls häufig auf. Ein Opiat wie  Heroin, das nehme man nicht, wenn man feiern will. Das braune Pulver, das wahlweise geraucht, geschnupft oder in geschmolzenem Zustand intravenös injiziert wird, diene nicht dem Lustgewinn, sondern vielmehr der „Unlustvermeidung“. Das ist in den 1970er Jahren auch Deans Motiv. „Wenn du drauf bist, fühlst du dich total erhaben. Die Probleme sind weg. Man fühlt sich warm, weich und in Watte gehüllt“, sagt er. Ein Problem bleibt aber:  Dieser Zustand hält nicht lange an. Und umso häufiger man den Stoff konsumiert,
desto mehr braucht der Körper. Mehrmals am Tag spritzt sich Dean damals das  Glücksgefühl in die Venen „Aber du musst dir nach ein paar Stunden erneut was spritzen,  sonst bekommst du ‘nen Affen“, sagt er. „Affe“, so nennt man in der Szene die typischen  Entzugserscheinungen – Schüttelfrost, Schlaflosigkeit, Erbrechen, Schmerzen im ganzen  Körper. „Du fühlst dich einfach hundeelend“, erklärt Dean. Das führe so weit, dass Abhängige vor ihrem Dealer auf die Knie fallen und regelrecht darum betteln, ihren Stoff zu bekommen – auch wenn sie kein Geld dafür haben. „Opiate nehmen einen schon sehr gefangen. Das kostet nicht nur viel Geld, es kommt darüber hinaus oft zu Verelendung und  Kriminalisierung, Wohnungsverlust – das ist so eine klassische Spirale. Auch wenn das nicht auf jeden Abhängigen zutrifft“, sagt  Hundt.

An Geld fehlt es Dean in Frankfurt lange Zeit nicht. Der Drogenkonsum lässt sich nicht nur  durchs Dealen, sondern auch durch Ladendiebstahl ganz gut finanzieren. Lederjacken, Handtaschen, Jeans – das wird man in der „Gurke“, dem Rotlichtviertel, schnell und zu  einem guten Preis los. Es läuft prima – bis Dean verpfiffen wird. Mit 21 Jahren muss er zum  ersten Mal ins Gefängnis. Und das bedeutet zugleich den ersten kalten Entzug. Hinter Gittern – so macht man das zu dieser Zeit. Die Therapiemöglichkeiten sind begrenzt. Mit  Ausnahme von zwei oder drei Einrichtungen gibt es in Deutschland kein echtes Angebot für  Heroinabhängige. Sie seien stattdessen in forensische Abteilungen gesperrt worden, sagt Weißenborn: „Es gab dann einen strengen kalten Entzug, teilweise wurden den  Abhängigen die Haare abgeschoren. Das war schon brutal.“ Was tut jemand, der über Jahre hinweg drogenabhängig war und dann nach einem Entzug aus der Haft kommt?  „Das Erste, was ich gemacht habe: Ich habe mir sofort Heroin besorgt. Ich weiß gar nicht so genau, warum. Das war irgendwie einfach in mir“, sagt Dean. Und die Versuchung sei zu groß gewesen. Die alten Probleme, die sindnoch da, als er aus der Haft entlassen wird. Die  Szene ist auch noch da. Die Kontakte zu Leuten, die ihr Geld mit Heroin und Co. verdienen, lassen sich schnell wieder auffrischen. Man kennt sich noch. Der Szene entfliehen, das gelingt Dean noch nicht einmal, als er zurück nach Lünen zieht. Den Stoff, Konsumenten  und Dealer gibt es schließlich auch hier zu genüge. Lünen sei in den 1980er Jahren ein  richtig „heißes Pflaster“ gewesen, sagt Dean. Der Kundenkreis habe weit über die Stadtgrenzen hinaus  gereicht.

Die Zahl der Konsumenten, die an einer Überdosis sterben, lässt erahnen, dass Dean damit  nicht ganz unrecht haben kann. „Als ich hier 1989 als Suchtberater angefangen  habe, gab es in Lünen 22 Drogentote. Dortmund galt als Hochburg. Aber Lünen war in der  Statistik an zweiter oder dritter Stelle in NRW“, erklärt Olaf Weißenborn. Dann zieht der Suchtberater mehrere Schreiben aus der Akte über Dean. Eines ist datiert auf Mai 1990.  Darin wendet sich Dean an das Gesundheitsamt und bittet um Aufnahme ins  Substitutionsprogramm. Heroinabhängige sollen dabei mit einem Drogenersatzstoff  versorgt werden. Aber nicht nur, um von der Droge wegzukommen. Es geht auch darum, die Beschaffungskriminalität einzudämmen. „Und zu der Zeit gab es noch eine ganz andere Problematik. Es war die Zeit, in der Aids aufkam. Die Infektionszahlen waren enorm hoch und steigerten sich immer mehr. Eine besonders betroffene Gruppe waren intravenös konsumierende Drogenabhängige“, sagt Matthias Hundt. Bei Menschen, die sich ihr Spritzbesteck teilen, ist die Infektionsgefahr groß. Trotzdem stößt das vom Land NRW initiierte Pionierprogramm, das im März 1988 zunächst testweise in Bochum, Essen und  Düsseldorf an den Start geht, nicht überall auf Zustimmung. Methadon und das verwandte Polamidon sind die ersten Substitutionsmittel – also Ersatzstoffe –, die angeboten werden. Sie verhindern die mit dem Heroinverzicht einhergehenden Entzugserscheinungen, sollen das Verlangen nach Opiaten dämpfen und wirken sedierend, man fühlt sich leicht betäubt  oder auch „abgeschirmt“. Die Kritiker entgegnen, es würde dadurch nur eine Abhängigkeit gegen eine andere getauscht. Viele Menschen, die auf Substitutionsmittel umgestellt werden, konsumieren diese anschließend nämlich über mehrere Jahre, wenn nicht sogar für den Rest ihres Lebens. Doch auch für die „umgestiegenen“ Opiatabhängigen gibt es ein Problem: Die Ersatzstoffe geben keinen „Kick“. Das plötzliche Gefühl, das man beim Konsum bekommt, der Rausch – das fehlt. „Damit haben viele Opiatabhängige große Schwierigkeiten. Das führt nicht selten zu verstärktem Beikonsum anderer berauschender Substanzen“, sagt Hundt. Während das Substitutionsprogramm heute zum Regelangebot gehört, ist der Zugang gerade in der Anfangsphase des Projekts nicht einfach. Dean muss nicht nur einen einzigen Brief schreiben, um aufgenommen zu werden. Er schreibt unter anderem auch einen an den damaligen NRW-Gesundheitsminister Hermann Heinemann persönlich. Und er schreibt an die Drogenberatungsstelle in Lünen. Zu diesem Zeitpunkt ist er 26 Jahre alt. Lünen ist 1990 als weiterer Erprobungsstandort des Substitutionsprogramms hinzugekommen. „Ich bin seit 1974 heroinabhängig. Alle Therapieversuche waren erfolglos. Ich bin immer wieder straffällig geworden“, schreibt Dean. Bestimmt 20 Entzüge habe er hinter sich. Insgesamt habe er sechseinhalb Jahre in Haft verbracht. Deans Bemühungen sind erfolgreich. Er wird ins Programm aufgenommen, bekommt seitdem Polamidon. „Ich habe mich gefreut wie ein Schneekönig, Ich wusste,  dass ich so wie bisher nicht weitermachen wollte. Das war nicht das Leben, das ich mir gewünscht habe“, erklärt er. Täglich holt sich Dean anschließend sein Polamidon in der Vergabestelle ab. Damals wird die noch vom Deutschen Roten Kreuz betreut. Inzwischen ist sie in der Tagesklinik des Landschaftsverband Westfalen- Lippe (LWL) hinter dem St.-Marien-Hospital angesiedelt. Zwischen 70 und 85 Patienten kommen laut Michaela van de Kamp täglich hierher. Van de Kamp ist leitende Oberärztin der Abteilung Suchtmedizin der LWL-Klinik in Dortmund-Aplerbeck. Sie ist zudem täglich für ein paar Stunden in Lünen, um die Patienten zu betreuen. Auf dem Flur sitzen am frühen Morgen drei dieser Patienten und warten vor dem Vergaberaum. Der erste wird hereingebeten. Nach ein paar Minuten ist er auch schon wieder draußen. Die Abläufe sind optimiert: Im Vergaberaum steht ein Gerät, das einem Kaffeeautomaten ähnlich sieht. Wer seinen Becher hier hinstellt, bekommt allerdings kein Heißgetränk, sondern flüssiges Methadon abgefüllt. Jeder Patient ist im Computer registriert, inklusive seiner Dosierung. Dadurch läuft die Vergabe zügig. „Wenn ein neuer Patient zu uns kommt, untersuchen wir ihn und überlegen, ob eine Substitution Sinn macht. Wir testen alle Patienten auf Alkohol und andere Drogen. Das wird von den Krankenkassen zwar nicht alles bezahlt, aber wir machen das trotzdem, weil wir uns eben  sicher sein wollen, was er konsumiert“, sagt van de Kamp. Erst dann taste man sich gemeinsam mit dem Patienten an die richtige Dosierung heran. Die Drogentests werden nicht nur am Tag der Aufnahme, sondern auch im Zuge der weiteren Behandlung durchgeführt. Ist ein Patient vertrauenswürdig, dann kann er sich seinen Drogenersatzstoff auch „auf Vorrat“ mit nach Hause nehmen, maximal für eine Woche. Etwa ein Drittel der Patienten der LWL-Tagesklinik darf das. Für viele ist es eine Entlastung, da sie zum Teil weite Wege auf sich nehmen müssen. Der Grund: Weder in Lünen noch in denN achbarstädten Werne und Selm gibt es noch niedergelassene substituierende Ärzte. Niemanden, der einen Substitutionspatienten in seiner Praxis aufnehmen und ihn täglich mit einem Drogenersatzstoff versorgen würde. Die Behandlung eines Suchtpatienten ist einerseits mit viel bürokratischem Aufwand verbunden. Andererseits, so sagt es van de Kamp, wollten die meisten niedergelassenen Ärzte ein solches Klientel wohl einfach nicht in ihrer Praxis haben. Es gebe die Sorge, andere Patienten könnten sich gestört fühlen, wenn neben ihnen ein Substitutionspatient sitzt. Ein Image-Problem: Das Bild des Junkies, der auf der Straße sitzt und sich in einer Pfütze seine Spritze setzt, das scheint in den Köpfen vieler Menschen immer noch verankert. Und Gegner der Therapieform, die gab es nicht nur damals, es gibt sie auch heute noch. Der Tausch einer Abhängigkeit gegen eine vermeintlich andere – daran gibt es immer noch Kritik, wie Matthias Hundt sagt: „Man muss sich aber klar machen: Sucht ist eine chronische psychische Erkrankung. Da stolpert man nicht einfach so rein und man wird sie auch nicht einfach so wieder los.“ Chronische Erkrankungen seien nun mal nach deutschem Gesundheitsgesetz behandlungsbedürftig: „Und wenn jemand viele Jahre auf ein Substitutionsmittel angewiesen ist, dann ist das auch völlig okay. Man würde ja einem Diabetiker auch nicht nach drei Jahren plötzlich sein Insulin wegnehmen.“

Dass zumindest Substitutionspatienten überhaupt nicht dem klassischen Bild der Heroinabhängigen entsprechen, zeigt sich beim Blick in die LWL-Ausgabestelle. Hier kriecht niemand auf dem Boden und bettelt um Drogen. Hier läuft auch niemand in Lumpen herum oder ist aggressiv. „Das sind Menschen wie du und ich. Unsere Patienten sind freundlich und umgänglich. Und man sieht ihnen ihre Erkrankung gar nicht an. Genauso, wie es bei vielen anderen Krankheiten der Fall ist“, sagt van de Kamp. Dass Therapien nicht immer ideal verlaufen, darüber ist sich die Dortmunder Ärztin durchaus im Klaren. Es gebe zwar nur wenige Patienten, die wirklich rückfällig werden und viele würden es schaffen, das Medikament mit der Zeit abzudosieren, sodass sie es irgendwann gar nicht mehr benötigen – aber dennoch hätten viele Probleme beim Umstieg auf Methadon  und Co. Gerade in der Anfangszeit der Therapie testen einige Patienten den Parallel-konsum von Drogenersatzstoff und Heroin. Letzteres entfaltet dann zwar nicht seine gewohnte Wirkung, aber allein die Handlung, sich eine Spritze aufzuziehen und sich die Nadel in den Arm zu stechen – das bewirkt laut van de Kamp schon etwas. Das sei eine Kopfsache. Das richtige Mittel für den Patienten zu finden, ist ebenfalls nicht immer leicht, denn die Wirkung variiert, wenngleich alle Mittel Entzugserscheinungen vermeiden. „Manche Stoffe machen nicht müde, sondern einen klaren Kopf. Das versuchen viele Patienten, aber sie kommen damit nicht immer zurecht“, sagt die Dortmunder Ärztin. Die Wirkung, die die Patienten vom Heroin kennen, der Grund also, warum sie es konsumiert haben, das fehlt eben. Ausprobiert hat Dean den Parallelkonsum anfangs ebenfalls. Das sei genau so eine Kopfsache gewesen, sagt er: „Aber da passierte nichts. Als ich mir das Heroin gespritzt hab, war es so, als hätte ich mir Wasser gespritzt. Das wollte ich im ersten Moment gar nicht wahrhaben.“ Wer einen Drogenersatzstoff nimmt, für den lohnt es sich schlichtweg nicht, weiterhin Heroin zu konsumieren. Davon ist Dean inzwischen überzeugt. Er hat den Weg aus der Sucht – wenn auch mit einigen Stolpersteinen – freiwillig angetreten. Aber ist das bei jedem Abhängigen so? Was treibt andere eigentlich in die Therapie? „Abhängigkeiten sind Abhängigkeiten, da ist das mit der Freiwilligkeit so eine Sache“, sagt van de Kamp. Niemand werde von außen gezwungen, eine Therapie anzutreten. Der Schritt erfolge gewissermaßen aus eigenem Zwang: „Die Menschen kommen zu uns, weil es ihnen sonst schlecht geht. Wir können ihnen durch die Therapie ein gutes Leben ermöglichen – ohne Heroin, ohne Entzug, und ohne Gefängnis.“ Der Zugang zur Therapie ist heute wesentlich leichter als früher – nicht nur, weil es mehr Plätze für Patienten gibt. Grundlegende Voraussetzung ist heute, dass ein Patient mindestens seit zwei Jahren opiatabhängig ist. Durch die im vergangenen Jahr geänderte Betäubungs-mittel-Verschreibungsverordnung sind zudem laut van de Kamp einige Hürden niedriger geworden. So können nun unter anderem Patienten in Heimen oder von Sozial-psychiatrischen Diensten substituiert werden. In der Drogenberatungsstelle gibt es keine  Medikamente.

„Manche Medikamente machen einen klaren Kopf. Damit kommen viel nicht zurecht.“ Michaela van de Kamp, Ärztin

Die Mitarbeiter stehen ihren Klienten auf andere Weise bei. Hier geht es um  Gespräche, um Unterstützung, die über einen reinen Plausch und gutes Zureden hinausgeht. Es geht nicht nur um die Bewältigung psychischer Probleme, sondern auch um Dinge wie die Sicherstellung der Lebensgrundlage – um Wohnverhältnisse, Schulden und berufliche Aussichten. Denn nicht jeder substituierende Klient steht aufgrund seiner Drogenvergangenheit plötzlich mit leeren Händen da. Handwerker gebe es viele, sagt Weißenborn. Und sogar Akademiker seien schon im Klientenkreis gewesen. „Wir haben Klienten, bei denen Sie heute nicht einmal erahnen würden, dass sie sich überhaupt mal nur im Dunstkreis der Drogenszene bewegt haben“, erklärt der Suchtberater. Wenn er die Lage in Lünen heute mit der Situation von damals vergleichen soll, dann klingt er durchaus ein wenig erleichtert: „Dass jemand an einer Überdosis gestorben ist, ist schon ein paar Jahre her. Heute gibt es bei uns keine Drogentoten mehr.“ Methadon und andere Ersatzstoffe hätten definitiv dazu beigetragen, dass die Menschen überleben. Heute  sterben Opiatabhängige laut Weißenborn eher an den Folgeerkrankungen ihrer Sucht als am Konsum selbst. Hepatits C komme häufig vor. Mittlerweile gebe es auch immer mehr ältere Patienten, die schon seit etlichen Jahren parallel zu ihrer Medikation in die Beratungsstelle kommen. So wie Dean. Beim Lüner „Drogenopa“ sieht man nichts mehr von der Suchtvergangenheit. Weder der Ende der 1980er Jahre vor der Beratungsstelle montierte Spritzenautomat noch das Bild, das hinter Dean an der Wand hängt, wecken in ihm die Lust auf Heroin. Das Bild zeigt die Grachten von Amsterdam. Dort war Dean früher
häufig, um sich seinen Stoff zum Dealen zu besorgen. Und heute? „Kein Bedarf“, sagt
Dean und grinst Weißenborn zu. „Ich habe hier meinen Kaffee. Und ich bekomme  weiterhin mein Polamidon. Mehr brauche ich nicht.“

 

  • Opiate bzw. Opioide sind schmerzstillende Substanzen, die unter anderem in der Krebstherapie Anwendung finden.
  • Heroin wurde Ende des 19. Jahrhunderts von der Firma Bayer entwickelt. Aufgrund der  steigenden Zahl von Abhängigen und des damit verbundenen politischen Drucks stellte das Unternehmen die Produktion Anfang der 1930-er Jahre ein. Bis 1958 wurde Heroin in  Deutschland allerdings noch legal verkauft.
  • Unter den insgesamt 489 Klienten der Drogenberatungsstelle der Suchthilfe Unna in Lünen  sind 106 Substitutionspatienten.
  • Die Drogenberatungsstelle ist Montag, Dienstag und Freitag von 9 bis 12 Uhr sowie Donnerstag von 9 bis 12 und 14 bis 16 Uhr geöffnet. Termine sollten vereinbart werden unter Tel. (02306) 57050 oder per Mail an brsl@suchthilfe-unna.de

Quelle: Ruhr-Nachrichten 20.03.2018

Fotos: Püschner

 

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